Meine erste DM-Medaille (von Andre Rohling)
Nürnberg. – Gute 500 km, sechs Stunden Autofahrt – oder gern auch acht, wenn’s schlecht läuft. Ein voller Bulli. Gute Stimmung wie oft – und doch ist etwas anders. Der eine redet mehr als sonst, der andere schweigt vor sich hin und ein Dritter macht Quatsch am laufenden Band. Ja, irgendwie merkt man die Aufregung. Der wichtigste Wettkampf der Saison steht bevor – die Deutschen Meisterschaften, in Nürnberg, im Max Morlock-Stadion. Wir haben monatelang trainiert, darüber geredet, uns vorbereitet. Und trotzdem: Wir sind aufgeregt!
Und jetzt das: Schlechtes Wetter, Regen, Kälte. Egal. Oder sogar gut? Das ist unser Wetter! Ob Regen, Schnee, Hagel, Sturm oder was auch immer - nichts kann uns vom Training abhalten. Und das draußen, immer und ohne Diskussion. Wie auch sonst: Eine Halle müsste erst noch gebaut werden.
Nächster Tag. Kurze Stippvisite im Stadion, ein Blick auf die ersten Disziplinen. Dann geht’s (endlich) los. Sportkleidung an – Aufwärmen: Einlaufen, Dehnen, Steigerungen. Und immer wieder gegenseitiges Beruhigen, Aufmuntern, Mut machen. Teamarbeit eben. Dann ins Aufrufzelt – 30 minutes to go. Ein Kampfrichter bringt uns vom Aufwärmplatz ins Stadion, in den Callroom. 20 minutes to go. Kontrolle unserer Kleidung, der Startnummern, unserer Dornen. Ten minutes to go. Auf in den Stadioninnenraum. Five minutes to go. Nervös? Aufgeregt? Na ja, von Ruhepuls kann man nicht mehr sprechen, die Anspannung ist enorm. Da, das große, gut gefüllte Stadionrund. Die Zuschauer – unglaublich! Puls: 120 und mehr.
Dann geht alles ganz schnell. Zweiter Vorlauf - souverän gewonnen. Mit deutscher Jahresbestzeit. Puls 200 und mehr. Freudestrahlend liegen wir uns in den Armen. Wir haben es geschafft. FINALE! Wir gehen als Vorlaufschnellste, als (Mit-)Favorit in den Endlauf.
Auslaufen! Physiotherapie! Fabian (Anmerkung der Redaktion: Dammermann) anfeuern. Ja, auch er zieht ins Finale ein! Jetzt nichts wie ins Hotel. Ruhe ist angesagt, entspannen. Abendessen. Kurze Teambesprechung und ab ins Bett. Einschlafen? Schlafen? Wie man eben so schläft vor dem wichtigsten Wettkampf des Jahres, vor dem bisher wichtigsten DM-Finale seines Lebens. Ruhepuls? Davon kann ich nicht mal träumen.
Nächster Morgen: Kurzes Einlaufen vor dem Frühstück. Das ist Kult, das ist unser Ritual. Frühstück – was sich angesichts der Aufregung halt Frühstück nennt. Heute ist der Tag, auf den wir alle hingearbeitet haben – unser Tag?! Wie oft haben wir ihn uns vorgestellt, wie oft davon geträumt, wie oft darüber geredet. Jetzt ist er da. Jungs, auf geht’s!
Im Stadion ein Schock. Adrian, unser Startläufer glaubt, seine alte Oberschenkelverletzung zu spüren. Was tun? Den Ersatzläufer einwechseln? Ein Mann behält die Ruhe. Unser Trainer (Wie es in dem wohl aussieht?). Er geht allein mit Adrian auf den Aufwärmplatz. Lässt ihn einlaufen. Beruhigt ihn. Und empfängt uns mit der Entwarnung, Adrian hat das ok gegeben, unser Trainer ist einverstanden – wir laufen in der Besetzung des Vorlaufes. Mit dem stärksten Team, unserer eingespielten Staffel, die in diesem Jahr von der 4x100 über 4x200 bis eben zur 4x400m alles gemeinsam durchlebt hat (Gut, dass wir auch Mittelstreckler haben. Sonst hätten wir wohl auch die 3 x 1000 m laufen müssen.). Das Finale kann kommen.
Der Aufwärmplatz ruft. Das Wetter – unser Wetter! Regen, spürbare Kälte. Halt wie im Training, oder?! „Finale 4 x 400 m Männliche Jugend U20, bitte sammeln“ werden wir zum Aufrufzelt gerufen. Es wird Ernst, es geht los. Gleich gilt es, das Beste (und möglichst noch mehr) zu geben.
Einlauf ins Stadion. Diese Zuschauermenge. Es sitzen trotz der morgendlichen Zeit schon mehr als zehntausend Zuschauer auf den Rängen. Klatschen. Jubeln. Feuern an. Welch ein Gefühl – ich merke nichts mehr. Wie in einer anderen Welt. Schnell meine Spikes anziehen. Noch ein kurzer Sprint. Da knallt es schon – der Startschuss. Adrian läuft. Und mit ihm die Angst ,dass seine Verletzung wieder aufbricht. 200m überstanden, 300m überstanden. Ja, es klappt! Übergabe auf Finn.

Jetzt beginnt das Rennen richtig. Finn sprintet los. Überholt einen, dann zwei, dann drei, dann vier…und den Letzten, den Führenden nimmt er auch noch mit. Jetzt ist auch der letzte Zuschauer richtig wach. Von Platz sechs auf Platz eins – innerhalb von 280 Metern. In einem deutschen Finale! Wer’s nicht gesehen hat, glaubt es nicht. Unfassbar! Eben Finn!
Schon bin ich an der Reihe. Fast 25 m Vorsprung hat Finn herausgelaufen. Für mich. Gegen die Potsdamer. Gegen einen Langsprinter aus dem Nationalmannschaft, einem WM-Teilnehmer der letzten Woche. Reicht das? Wie lange reicht das? Ruhig bleiben. Abwarten. Die Stadionansage schildert begeistert die Aufholjagd des Potsdamers, die Zuschauer jubeln. Ich weiß, ich merke, gleich wird er da sein. Ich renne um mein Leben. 200 m, die halbe Runde ist geschafft. Ich höre Schritte, sie werden lauter und lauter. Dann ist er da. Versucht, mich 150 m vor dem Ziel zu überholen. Meine Gedanken – keine Ahnung. Oder doch: Nicht mit mir! Ich laufe mit, bleibe neben dem Potsdamer, lasse ihn nicht vorbei. Bin das ich? Oder ein anderer, schnellerer Läufer? Mal liegt er leicht vorn, dann wieder ich. So stürmen wir über die Zielgerade, Brust an Brust. Ich gebe alles – und noch viel mehr. Übergebe den Stab auf gleicher Höhe. Ich hab‘s geschafft. Was für ein Lauf!

Wenn ich jubeln könnte, würde ich's tun. Aber Felix, unser Schlussläufer, ist ja noch unterwegs. Wir fiebern mit, schreien, zittern, bangen. Die Mainzer kommen näher und näher, haben auf ihren Nationalmannschaftssprinter als Schlussläufer gesetzt. Er soll es richten, er soll Silber in die Pfalz holen. Aber nicht mit uns. Felix läuft ruhig an, lässt die Potsdamer laufen, konzentriert sich aus das Machbare. Legt eine souveräne Zielgerade hin, verteidigt Rang zwei. Reißt die Arme hoch - es ist geschafft! 3:16,32 min- eine klare Bestzeit. Und was für eine! Unglaublich, unfassbar. DEUTSCHER VIZEMEISTER! Unser Training der letzten Jahre hat sich ausgezahlt.

Glücklich strahlend geben wir ein Interview. Dann zur Siegerehrung. Was steht da auf meiner „neuen“ Startnummer. SILBER! Stimmt also doch – wir sind Zweiter geworden. Ich kann es immer noch nicht glauben. „Platz zwei für die LG Osnabrück.“ Wir springen aufs Siegespodest. Sehen uns gegenüber auf der Videowand. Erhalten die Medaille. Und die Urkunde. Ja, jetzt muss ich es glauben. Jetzt ist es nicht mehr zu übersehen. SILBER! Was für ein Tag! Welch ein Erlebnis! Unvergesslich! Unbeschreiblich! Und eines weiß ich ganz genau: Nächstes Jahr will ich wieder hier stehen. Oder richtig: Nächstes Jahr will ich im Berliner Olympiastadion auf dem Treppchen stehen.
Auf geht’s, Jungs. Wir müssen trainieren…..